Berlin "The Crumbling Metropolis"

Jürgen Tietz

Berufliche Stationen

Sie haben 1985-1993 Kunstgeschichte studiert, 1993 ihren Magister gemacht und 1997 promoviert. Seit 1997 sind Sie freiberuflicher Architekturhistoriker und Publizist, haben umfangreiche Lehr- und Vortragserfahrung im In- und Ausland, u.a. an der Universität Roma Tre, am Internationalen Städteforum Graz, am Deutschen Historischen Institut in Warschau, an der Konrad-Adenauer-Stiftung, an der TU und TFH in Berlin, an der TU Dresden und an der Landeszentrale für politische Bildung Niedersachsen.

Sie haben zahlreiche Buch- und Aufsatzpublikationen zu den Themen Architektur, Baugeschichte und Denkmalpflege vorzuweisen. Regelmäßige fachjournalistische Veröffentlichungen in der Neuen Zürcher Zeitung, im Berliner Tagesspiegel sowie in Zeitschriften wie Domus, Baumeister, Bauwelt, Bauzeitung, Deutsches Architektenblatt, db, Häuser und Merian. 1999 erhielten Sie den Journalistenpreis des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz.


Einstiegsvortrag:

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit meinem kurzen Impulsreferat zu der folgenden Diskussionsrunde möchte ich nur einige wenige Aspekte der sechziger Jahre Architektur anreißen. Was sind, so habe ich mich gefragt, die beiden wichtigsten Begriffe, die sich aus dem Rückblick mit den sechziger Jahren verbinden lassen? Es sind meiner Meinung nach bezeichnenderweise zwei Begriffe, die uns heute - so scheint es - abhanden gekommen sind.


Aufbruch und Vision:

Das Aufbrechen der gesellschaftlichen Verkrustungen der Nachkriegszeit ging in den sechziger Jahren mit der Lust an einer ganz neuen populären Kultur einher. Sie war bunt und schrill, laut und poppig - und manchmal auch gewollt unkonventionell und darin häufig provozierend.Das gilt auch für die Architektur. Denn auch die konnte und wollte sich von den gesellschaftspolitischen Umbrüchen nicht abkoppeln lassen.Gleichwohl fielen die neuen Visionen von Architektur und Städtebau zu Beginn der sechziger Jahre nicht vom Himmel. Vielmehr waren sie im Weiterdenken der Nachkriegsmoderne entstanden. Einer Nachkriegsmoderne, die übrigens höchst vielschichtig war. Und das nicht nur angesichts der beiden politischen Systeme in Ost und West.

Das zeigt auch ein kurzer Blick zurück auf Deutschland nach 1945. Ein Land in Schutt und Asche, in dem die Wiederaufbaukonzepte kontrovers diskutiert wurden. Dem entsprachen die unterschiedlichen Wege, die beim Wiederaufbau in den folgenden Jahren beschritten wurden: Sie reichten vom traditionalistischen Ansatz, wie er etwa in München verwirklicht wurde, bis zu den Spielarten der Moderne, wie sie in Berlin - noch - zu sehen sind.

Die sechziger Jahre brachten zahlreiche Neuerungen in die Architektur, nicht nur einen erneuten Maßstabssprung etwa, sondern auch eine Vielzahl neuer Formulierungen für Bauten - vom verdichteten Wohnungsbau bis hin zur architektonischen Megastruktur. Allerdings ging man bei den Neubauplanungen von Seiten der öffentlichen Hand wie von Seiten der Architekten nicht immer mit dem nötigen Feingefühl gegenüber dem historischen Bestand in den Städten vor.
Es ist unbestritten, dass gerade in den sechziger Jahren viel zuviel historische Bauten bedenkenlos geopfert wurden. Das Wort von der gemordeten Stadt machte die Runde. Auch in den sechziger Jahren war es nicht anders als in anderen Epochen der Architekturgeschichte: das Mittelmaß dominierte über die wirklich guten Projekte. Und doch sind damals zahlreiche Gebäude von begeisternder Qualität entstanden.

In Ost und West.

Denken sie nur an die Bremer Stadthalle oder den Teepot in Warnemünde, an Egon Eiermanns Olivetti Türme oder Gottfried Böhms Mariendom in Neviges. Aus dem gewaltigen Pool an architektonischen Visionen der sixties der von poppig bis expressiv reichte, von Archigram bis Bakema wird noch heute, wird gerade heute wieder in der zeitgenössischen Architektur freizügig geschöpft.

Gleichwohl: die Architektur der Nachkriegsmoderne und im Besonderen der sechziger Jahre besitzt derzeit keine gute Stellung in der deutschen Gesellschaft.So resümierte Ira Mazoni jüngst in der Süddeutschen Zeitung:
"Selbst denkmalgeschützte Bauten der zweiten Moderne sind in Deutschland nicht vor entstellendem Umbau oder gar Abriss sicher. Besonders eklatant ist die Situation in der Bankenmetropole Frankfurt. Die einzige Hochhausstadt Deutschlands entsorgt gerade ihre ersten Türme."
Auch Berlin hat bekanntlich seine Leichen im Abrisskeller:
Erinnert sei dabei nur an die Zerstörung des denkmalgeschützten Reichstags Innenausbaus von Paul Baumgarten oder den Abriss seiner Bewag Verwaltung.Und über dem Institut für Bergbau und Hüttenwesen von Willy Kreuer oder dem Marschall Haus von Bruno Grimmek auf dem Messegelände schwebt das Damoklesschwert des Abrisses. Der Blick auf das Gelände des ehemaligen Ahornblattes macht die Problemstellung deutlich, durch die die sechziger Jahre Bauten unter Druck geraten sind:
Dabei handelt es sich einerseits um den konservativen Paradigmenwechsel weg von der Stadtlandschaft der Moderne und hin zur Tradition der europäischen Stadt mit ihren Blockrandbebauungen. Interessanterweise ebenfalls ein Kind der sechziger Jahre.

Dass die Baupraxis nach 1960 in die Kritik geriet, ist dabei nur zu verständlich, wenn man etwa an die besinnungslose und geschichtsvergessene Berliner Flächensanierungspolitik dieser Jahre denkt.
In Berlin hat die Tradition der europäischen Stadt mit der "kritischen Rekonstruktion" dann auch ein besonderes Kind zur Welt gebracht, ein Zwitterwesen, ein bisschen gestern und ein bisschen heute.

Nein meine Damen und Herren, keine Angst.
Ich will diesen Streit aus den neunziger Jahren um die vermeintliche Berlinische Architektur heute Abend gar nicht in die nächste aussichtslose Runde tragen.Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass die sechziger Jahre Bauten aus unterschiedlichen Gründen unter Druck geraten sind. Dazu wende ich den Blick noch einmal auf die Fischerinsel und die Nachfolgebauten des Ahornblattes. Er zeigt nämlich, dass auch die von Senatsseite in Berlin so lautstark vertretene Schließung von Blockrändern allein noch keinen Schutz vor Investorenschrott bietet, vor architektonischer Tristesse. Deshalb sei gewarnt, wer bei den historisierenden Projekten auf dem Friedrichswerder und am Spittelmarkt - die ja letztlich gegen den Städtebau der sechziger Jahre gerichtet sind - auf eine Wiedergewinnung von historischen Stadtqualitäten spekuliert.

Gleichwohl: architektonische Sehnsuchtsanker, wie sie die neue alte Kommandantur nur wenig Meter von hier entfernt in ihrer sterilen Selbstgefälligkeit darstellen, haben beim Publikum großen Erfolg - und damit auch bei der Wirtschaft, die inzwischen gleich ganze Schlösser als Shoppingzentren wiedererstehen lässt. Der Wind der Gegenwart bläst den sechziger Jahre Bauten stramm ins Gesicht, jenen Bauten, die ja gerade erst in ihrem Denkmalwert erkannt werden.

Man könnte die Entwicklung auf ein triviales Motto bringen:
Die Generation der Söhne wischt das Werk der Väter weg, damit es von den Enkeln wiederentdeckt werden kann.
Das war immer so, werden sie sagen. Und es stimmt. Doch so sollte es nicht bleiben.
Warum nicht?
Weil wir es uns auch jenseits des Denkmalwertes zahlreicher Bauten der sechziger Jahre gar nicht mehr leisten können, so mit dem Bauerbe umzugehen! Angesichts der demographischen Entwicklung wird die viel zitierte urbane Dichte der europäischen Stadt in vielen deutschen Städten zu einer Illusion werden. Ich erinnere Sie nur an die optimistischen Vorstellungen über die Bevölkerungsentwicklung Berlins nach 1990. Das Gegenteil ist eingetreten. Schrumpfung statt Wachstum - auch an der Spree. Aber selbst, wenn es gelingen sollte, das derzeitige Bevölkerungsniveau Berlins zu halten, sind künftig ganz andere städtebauliche Strategien gefragt: Umnutzung statt Neubau etwa.

Wir werden uns daran gewöhnen, dass Brachflächen künftig Teil der Stadt sein werden. Der aufgelockerte Stadtgrundriss der Moderne, er wird über die Hintertüre zurückkehren und an den Stadträndern - und vor allem im Umland - werden Wüstungsprozesse einsetzen, wie sie Brandenburg seit dem Mittelalter nicht mehr erlebt hat! Angesichts dieser Rahmenbedingungen gilt es, Feindbilder abzubauen: Stadt ist eben nicht nur historischer Stadtgrundriss, wie er im Planwerk Innenstadt auf Kosten der Nachkriegsmoderne festgeschrieben wird. Stadt ist nicht nur gestern. Stadt ist Vielfalt. Eine gewachsene historische Vielfalt zu der eben auch die Bauten der sechziger Jahre gehören. Bei ihrer Erhaltung ist vor allem die Denkmalpflege noch weit stärker als bisher gefordert. Sie muss im Verbund mit anderen Partnern gerade auch bei Bauten der sechziger Jahre erfolgreiche Umnutzungskonzepte erarbeiten, statt den Denkmalwert - wie im Fall des Bewag Gebäudes von Paul Baumgarten - schlicht zu verschlafen.
Das Beispiel des ehemaligen Kieperthauses an der Hardenbergstraße zeigt: Umnutzung und Modernisierung sind machbar, ohne dass dies auf Kosten des Denkmalwertes gehen muss.

Und wir sollten uns einen Luxus gönnen, meine Damen und Herren:
Wir sollten mit dem gebauten Erbe behutsam umgehen. Das ist nämlich meistens wirtschaftlicher als der schnelle Abriss. Das bedeutet aber auch, zu wissen worüber wir reden. Doch bis heute ist die Nachkriegsmoderne West-Berlins weitgehend unbearbeitet. Es gibt keine Monografien über Schwebes und Schoszberger oder Bruno Grimmek.In Berlin wurde in den letzten Jahren viel im Namen der Geschichte umgebaut und abgerissen, ohne dass diese Geschichte zuvor in ihrer Tiefe erforscht worden wäre.
Stattdessen stehen kurzfristige ästhetische Vorlieben und ebenso kurzfristiges Gewinnstreben im Vordergrund. Das erinnert an manche der heute scharf kritisierten Projekte der sechziger Jahre. Nachhaltige Stadtentwicklung sollte anders aussehen.
Auch wenn die Ästhetik der sechziger Jahre heute gelegentlich als Ideenpool für Architekten dient, werden wir heute nicht mehr so bauen wie in den sechziger Jahren. Weder der sechziger Jahre Historismus noch das Revival der Vormoderne, wie es manchen Berliner Architekten vorzuschweben scheint, sind angebracht.
Eines nämlich lehrt der Blick auf das gebaute Erbe: Architektur ist Vielfalt. Und sie lebt von den Visionen.
Diese Visionen brauchen wir - sowohl im behutsamen Umgang mit dem architektonischen Erbe der sechziger Jahre wie auch bei Neubauten.

Ich danke Ihnen!



Diskussion

Frage Moderation:
"Gerade ist ein Artikel von Ihnen in der Bauwelt (Heft 21 / 04) über den Berlin Pavillon am 17. Juni, am Eingang des Hansaviertels erschienen. Den Berlin Pavillon hat das Land Berlin im November letzten Jahres an ein "Drive-in" Fast-Food-Restaurant verkauft. Sie schreiben in Ihrem Artikel:

"So bietet der Pavillon ein gutes Beispiel einer offenen Spielart der Nachkriegsmoderne - jenseits der trivialen Blockrandbebauungen, die dem Pavillon gleich neben der nahen S-Bahn inzwischen zu Leibe rücken." (...) "Sein Verkauf dokumentiert nicht nur die Finanznot der Stadt, die zuvor Wände und Garten dieses Baudenkmals verlottern ließ. Er kann auch als Abgesang auf jene öffentliche Architekturdebatte gelesen werden, die einst im Berlin-Pavillon ihr Domizil hatte."

Ich möchte jetzt den Bogen zur hier in diesem Raum stattfindenden Ausstellung "OSTMODERNE" spannen: Herr Tietz, gelingt es uns nur noch mit Schlossattrappen Menschen in unseren Bann zu ziehen, oder gibt es noch andere Möglichkeiten wie wir zum Beispiel die Nachkriegsmoderne wieder im öffentlichen Bewusstsein der Stadt vorurteilsfrei verankern können?"

Antwort Herr Tietz:
"Es gibt in Berlin inzwischen gute Beispiele, wie bedeutende Bauten aus der Nachkriegzeit denkmalgerecht hergerichtet werden können, um sie weiter zu nutzen. Denken sie nur an das ehemalige Kiepert-Gebäude Ecke Hardenberg- / Knesebeckstrasse, das auch gut von der Öffentlichkeit angenommen wird. Damit dies künftig auch bei anderen Bauten dieser Epoche gelingt, ist neben dem Engagement der Denkmalpflege sowie der privaten Investoren nicht zuletzt die Politik gefragt, die schließlich die Rahmenbedingungen schafft. Durch einen behutsamen Umgang mit dem Bauerbe in ihrem eigenen Besitz kann sie ein Beispiel geben und Zeichen setzten.

Das würde allerdings auch bedeuten, dass die städtebaulichen Leistungen der fünfziger und sechziger Jahre wie sie am Ernst-Reuter-Platz, am Zentrum am Zoo oder dem Kulturforum zu sehen sind, in ihrem Erscheinungsbild respektiert werden müssen.

Die in Berlin so beliebten Blockrandschließungen sollten sich an diesen Orten daher ebenso verbieten, wie eine unangemessene Verdichtung, durch die diese einzigartigen Ensembles der Moderne schweren Schaden nehmen würden.

Die Architektur Berlinszeichnet sich durch ihre unglaubliche Vielschichtigkeit aus, zu der die Stalinallee ebenso zählt wie das barocke Zeughaus, das Kulturforum genauso wie das Rote Rathaus. Statt den Blick hauptsächlich auf die Rückgewinnung des barocken Stadtgrundrisses zu richten, gilt es in Zukunft, diese vorhandene Vielschichtigkeit als architektonische und städtebauliche Qualität zu begreifen. Als ein Pfund, mit dem die Stadt wuchern kann. Und dabei spielt auch die Nachkriegsmoderne eine wichtige Rolle, von der in beiden Hälften der Stadt bedeutenden Beiträge zu bewundern sind."

Antwort Frau Dubrau:
"Der Bezirk hätte sich für den Berlin Pavillon auch lieber eine kulturelle Nutzung gewünscht. Ich habe nicht verstanden, warum man sich wegen eines relativ geringen Mehrbetrages statt für einen kulturellen Mitbieter für ein Fast-Food-Restaurant entschieden hat."